Individuelle Vermögensverwaltung / Wirtschaft
Die chinesische Mauer der Angst wächst
Ungerechtfertigte Sorgen bezüglich China dürften die von den Aktienkursen zu erklimmende Mauer der Angst noch höher wachsen lassen.
Im dritten Quartal verzeichnete das chinesische Bruttoinlandsprodukt ein Wachstum gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 4,8 Prozent. Dieser Rückgang gegenüber 5,2 Prozent im zweiten Quartal befeuerte erneut Spekulationen bezüglich einer harten Landung: Die chinesische Wirtschaft stehe, so meinen viele Beobachter, am Rande eines Zusammenbruchs. Bedingt sei dies durch die anhaltende Immobilienkrise, die Deflation (allgemeiner Rückgang der Verbraucherpreise) und den Handelskrieg mit den USA.[i] Sicherlich wirken sich diese drei Negativfaktoren – in unterschiedlichem Ausmass – auf die Gesamtlage aus. Das Problem, auf das diese reflexartigen Schlagzeilen hinweisen, ist den Anlegern unserer Meinung nach aber schon wohlbekannt – und im Allgemeinen sind es ja vielmehr die unerwarteten Entwicklungen, die die Märkte am meisten bewegen. Unserer Einschätzung nach steht China mit Blick auf Konjunktur und Handel besser da, als die Medien uns glauben machen wollen, wovon sowohl die globale Wirtschaft als auch die Aktienmärkte profitieren.
Berichte haben hervorgehoben, dass China im dritten Quartal dieses Jahres das langsamste Wachstum seit dem dritten Quartal 2024 verzeichnete, als die Wachstumsrate bei 4,6 Prozent lag.[ii] Das Wachstum wurde als «fragil» beschrieben, geplagt von «sich verschärfenden strukturellen Ungleichgewichten» und sei dringend auf Konjunkturimpulse angewiesen. Dementsprechend warten Ökonomen und Analysten sorgenvoll auf einen neuen Fünfjahresplan, der China aus seiner vermeintlichen Flaute heraus verhelfen soll.[iii]
Die Veröffentlichung der jüngsten Monatsdaten löste eine ganz ähnliche Stimmung mit einem Fokus auf dem «Ungleichgewicht des chinesischen Wachstums» aus.[iv] Das Wachstum der Einzelhandelsumsätze befand sich im September mit 3,0 Prozent im Vorjahresvergleich auf dem niedrigsten Niveau seit letztem November. Die Investitionen in Sachanlagen sind derweil seit Jahresbeginn gegenüber den ersten neun Monaten 2024 um 0,5 Prozent gesunken und verzeichnen somit den ersten Rückgang seit fünf Jahren.[v]
In der Berichterstattung wurde sogar das beschleunigte Wachstum der Industrieproduktion heruntergespielt. Tatsächlich beschleunigte sich das Wachstum der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 5,2 Prozent im August auf 6,5 Prozent im September und lag damit am oberen Ende der in den letzten beiden Jahren verzeichneten Wachstumsspanne.[vi] Doch anstatt die Stärke der Industrie zu begrüssen, wurde dies in den Medien teilweise als Anzeichen einer mutmasslichen Exportabhängigkeit Chinas gewertet, die angesichts der schwachen Entwicklung von Konsum und Investitionen im Inland «tiefer liegende Probleme überdeckt» – ein weiterer Belastungsfaktor für die Marktstimmung.[vii]
Ungeachtet der angeblichen grundlegenderen Herausforderungen steht die BIP-Entwicklung jedoch im Einklang mit dem offiziellen Wachstumsziel der Regierung für das Gesamtjahr von rund 5 Prozent.[viii] So belief sich das kumulierte BIP-Wachstum in den ersten drei Quartalen 2025 auf 5,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.[ix] Dies beruhte zugegebenermassen unter anderem auf einem Exportanstieg, da die chinesischen Ausfuhren seit Jahresbeginn um 6,2 Prozent im Vorjahresvergleich angewachsen sind. Gleichzeitig brachen die Exporte in die USA aber um 16,9 Prozent ein.[x] Demnach kann China den Rückgang seiner Ausfuhren in die USA durch den Handel mit anderen Ländern mehr als ausgleichen.[xi] Unseres Erachtens deutet dies keineswegs auf eine Abhängigkeit hin, sondern beweist im Gegenteil, dass China von einer breiten globalen Nachfrage profitiert.
Die chinesischen Exporte in den Rest der Welt finden gleichwohl nicht überall Anklang. Beispielsweise plant die EU Zölle von 50 Prozent auf importierten Stahl und eine Senkung der zollfreien Quote um 47 Prozent.[xii] Mexiko zieht ähnliche Schritte in Betracht.[xiii] Da allerdings nur ein Bruchteil des chinesischen Gesamthandels und BIP betroffen sind, halten wir dies nicht für einen wesentlichen Negativfaktor.[xiv]
Wie bei vielen Industrieländern basiert die chinesische Wirtschaft ausserdem zu einem Grossteil auf Dienstleistungen, auf die 56 Prozent des BIP entfallen.[xv] Im dritten Quartal trugen Dienstleistungen 3,0 Prozentpunkte zum Gesamtwachstum bei und übertrafen damit den Export, nachdem sie das vierte Quartal in Folge um mehr als 5 Prozent im Vorjahresvergleich zugelegt hatten.[xvi] Auf der Ausgabenseite erhöhte sich der Anteil des Konsums von Waren und Dienstleistungen am BIP-Wachstum auf 56,5 Prozent.[xvii] Während dem Aussenhandel und dem Immobiliensektor grosse Aufmerksamkeit geschenkt wird, widerlegt das kontinuierliche Wachstum von Konsum und Dienstleistungen unseres Erachtens still und leise die weit verbreitete Meinung, die Wirtschaft sei «unausgewogen» und leide unter dem anhaltenden Immobilienmarktabschwung.[xviii]
Das soll nicht heissen, dass China frei von Problemen ist. Doch sind die bestehenden Herausforderungen (d. h. die Flaute am Immobilienmarkt und die Verlangsamung der Haushaltsausgaben) wohl bekannt. Insgesamt könnte sich das Wachstum in China etwas abkühlen. Unserer Ansicht nach dürfte es aber weiterhin ausreichen, um die globale Nachfrage zu unterstützen. Dabei sind etwaige Stimuli zur Anregung des Binnenkonsums noch nicht mitgerechnet.
Beispielsweise schreiben viele Marktbeobachter den Rückgang der Einzelhandelsumsätze der nachlassenden Unterstützung durch das chinesische Tauschprogramm für Altgeräte zu. Tatsächlich ist es eine viel diskutierte Frage unter Chinaexperten, ob das Politbüro weitere konsumbezogene Unterstützungsmassnahmen beschliessen wird. Manche Beobachter gehen davon aus, dass die politischen Entscheidungsträger alles Erforderliche tun werden, um das Wachstum (und den langanhaltenden sozialen Frieden) weiter zu garantieren, während andere einen stärkeren Fokus auf strukturellen Reformen erwarten, die auf die langfristige Entwicklung des Landes abzielen, zum Beispiel in Form einer Rentenreform.
In jedem Fall sehen wir Potenzial für positive Überraschungen angesichts der nach wie vor erhöhten Wirtschaftssorgen und der trüben Marktstimmung mit Blick auf China sowie das globale Wachstum und den Handel. Unserer Erwartung nach wird das chinesische Wachstum auch ohne grössere Konjunkturmassnahmen anhalten, selbst wenn nur wenige Marktbeobachter dies richtig einzuschätzen wissen. Nach unserem Dafürhalten sagt das letztlich mehr über die Marktstimmung als über die tatsächliche Entwicklung in der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt aus. Folglich wächst die chinesische Mauer der Angst, an der die Aktienkurse emporsteigen.
[i] Quelle: FactSet, Stand: 23.10.2025. Das BIP ist eine staatliche Kennzahl für die Wirtschaftsleistung eines Landes.
[ii] Ebd.
[iii] «China’s Q3 GDP Growth Slows to One-Year Low in Test of Long-Term Policy Plans», Kevin Yao und Ellen Zhang, Reuters, 20.10.2025. Abgerufen über Yahoo!
[iv] «China’s Lopsided Growth Puts Spotlight on Xi’s Five-Year Plan», Redaktion, Bloomberg, 20.10.2025. Abgerufen über MSN.
[v] Quelle: FactSet, Stand: 23.10.2025.
[vi] Ebd.
[vii] Siehe Fussnote iv.
[viii] Quelle: FactSet, Stand: 23.10.2025.
[ix] Ebd.
[x] Ebd.
[xi] Ebd.
[xii] «EU Steel Tariff Hike Threatens ‹Biggest Ever Crisis› for UK Industry», Ollie Smith, BBC, 08.10.2025.
[xiii] «Mexico Congress Halts China Tariff Debate on Lawmakers’ Concern», Alex Vasquez, Bloomberg, 09.10.2025. Abgerufen über Yahoo!
[xiv] Quelle: FactSet, Stand: 23.10.2025.
[xv] Ebd.
[xvi] Ebd.
[xvii] Ebd.
[xviii] «The Biggest Threat From China Is Not Espionage but Its Unbalanced Economy», Jeremy Warner, The Telegraph, 16.10.2025. Abgerufen über Yahoo!
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